Arbeitsbereiche
Der Beitrag des Graduiertenkollegs liegt in einer langfristigen und vertieften Auseinandersetzung mit dem Ineinandergreifen von Operationen des Vernetzens, Speicherns, Standardisierens und Übersetzens in Praktiken des An- und Ausschließens. Das Kolleg setzt in der engen transdisziplinären Zusammenarbeit auf eine offene und dezidiert explorative Arbeitsweise, deren Ergebnisse nicht deduktiv vorweggenommen werden können und sollen. Die Skizzierung der folgenden vier Arbeitsbereiche gibt insofern Richtungen und Fragestellungen an, mit denen der Prozess beginnen soll, in denen er aber nicht enden wird.
Indem das Graduiertenkolleg die doppelten Vollzüge von Anschluss und Ausschluss in den Blick nimmt, interessieren wir uns für Angebote der Netzwerktheorie und -forschung, die wir kritisch erweitern wollen. Dabei gehen wir vor allem von qualitativer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Netzwerkforschung sowie von den Infragestellungen klassischer Ontologien in Akteur-Netzwerk- und der Akteur-Medien-Theorie aus, die aber Erkenntnisse aus mathematischen und formal modellierenden Netzwerkanalysen aufnehmen und interpretieren müssen. Jenseits der Beschreibung von Gesellschaften, Gemeinschaften und sozialen Systemen als Netzwerken ist für jüngere Phänomene die Auseinandersetzung mit digital manifestierten, sogenannten ›sozialen Netzwerken‹ online eine eigene Herausforderung, wonach die Rede von einer Netzwerkgesellschaft als ›nächster‹ Gesellschaft, als heraufkommender Organisationsform denkbar wird.
In allen diesen Konzepten fasst die bisherige Forschung Dynamiken in Netzwerken vor allem durch das Primat der Anschlussfähigkeit als zentralem Selektionskriterium. Die damit eng verbundenen Prozesse des Ausschließens schienen demgegenüber zunächst nicht der Rede wert zu sein. Hier setzen die Forschungsfragen des Kollegs als erstes an. Von Ausschlüssen im digitalen globalen Netz bis zur Parallele zwischen Telekommunikationsgemeinden und den sich weltweit ausbreitenden gated communities, von Netzwerken im Exil über Infrastrukturen des Transports bis zu Prozessen der Zirkulation von Bildern, Zeichen und Waren sind Störungen, Stilllegungen und Umleitungen der Vernetzung zu beobachten. Ebenso wollen wir untersuchen, wie digitale Netzwerke neue Möglichkeiten für das Entstehen von Öffentlichkeiten online und in etwa städtischen Räumen als ‚hybriden Raum‘ schaffen. Im globalen Kunstfeld sind schließlich basierend auf einer Kritik an den Verteilungsmechanismen, der Wettbewerbslogik und der ethischen Standards Praktiken zu beobachten, die sich in ein asymmetrisches Verhältnis zu den vorherrschenden unternehmerischen Strategien globaler Vernetzung stellen.
Fragen der Speicherung und der Speicherbarkeit sind zu zentralen Fragen in einer Vielzahl von Zusammenhängen geworden. Dabei kommt es zu ambivalenten Erscheinungen. Operationen des Anschließens und Ausschließens erweisen sich oftmals nicht als Gegensätze, sondern als ineinander verschränkt. Sie bilden in eben ihrer Ambivalenz das Themenfeld dieses Arbeitsbereiches. Die Fragestellungen richten sich auf Leerstellen, Überschüsse und Effekte in den Operationen des Speicherns
Digitale Speichermedien haben das Terrain entscheidend verändert. Dies kann zweierlei bedeuten: einerseits den Ausschluss all desjenigen, das nicht dem Imperativ der Digitalisierung folgt; andererseits neue Anschlussmöglichkeiten für ephemere Praktiken. Die kulturell je spezifische Unterscheidung von dem Aufzuhebenden und dem zu Verwerfenden, von Erinnerung und Vergessen, von kulturellem Gedächtnis und information-overload wird durch die Digitalisierung neu strukturiert. Kanonbildungen werden problematisch. Praktiken der Digital Humanities, der big data und des data-mining wie auch des Samplings werden ermöglicht. Bei all dem spielt die materielle Kurzlebigkeit digitaler Speichermedien eine untergründige Rolle.
Die verschiedenen Formen materieller Speicherungen sind im Zuge der Globalisierung in ein hybrides Stadium getreten. Aufbewahrungsorte materieller Artefakte (Bibliotheken, Museen, Objektarchive, Kunstsammlungen etc.) wurden Knotenpunkte in digitalen Netzwerken. Dies hat sowohl strukturelle als auch politische Folgen. Die politische Problematik materieller Archive wird nirgends deutlicher als in den sogenannten „ethnologischen Sammlungen“ Europas sowie Nordamerikas. Was jeweils wann und wie, unter welchen Bedingungen und mit welchem (Un-)Recht aus dem einen Kontext herausgeschnitten und in einen neuen Kontext übertragen wurde – all dies ist zum Gegenstand tiefgreifender Kontroversen geworden. Das GRK 2661 trifft zeitlich genau in eine Periode, in der all dies neu ausgehandelt wird.
Der Arbeitsbereich zielt darauf ab, Standardisierungsprozesse in einer mehrdimensional vernetzten Weltgesellschaft nicht nur im Hinblick auf kulturelle, institutionelle oder technische Vereinheitlichungen hin zu untersuchen, sondern zugleich auch divergierende An- und Ausschlussoperationen in den Fokus der Analyse zu nehmen. Dadurch erst können zum Beispiel eine Literatur- und Kunstgeschichte der Evolution von Gattungen als ein Prozess der Aushandlung ästhetischer Formen sowie eine Mediengeschichte überholter, veralteter oder inkompatibler Standards in der Kommunikations-, Computer- und Speichertechnologie analysiert werden. Das erklärte Ziel des Graduiertenkollegs ist es dabei jene Operationen präzise zu konturieren, die globale Standards aufnehmen, unterlaufen und in unterschiedlichen Verfahrensweisen übersetzen und diese als generative und transformative Prozesse zu verstehen.
Aus diesem Grund stehen im Zentrum der Analyse transdisziplinäre und kulturvergleichende Reflexionen zur Emergenz und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wissensordnungen. Hierbei sollen auch außeruniversitäre Foren und Formen epistemischer Praxis mit einbezogen werden, um eurozentrische, patriarchale, koloniale, kapitalistische und ökologisch unhaltbare Praktiken und Codes, in die insbesondere der globale Norden wie auch seine Wissenschaften zutiefst verstrickt sind, zu dekonstruieren. Im Hinblick auf erkenntnistheoretische Fragestellungen hat dies die Frage nach den je abweichenden begrifflichen Konstitutionen von Welt mit ihren divergierenden impliziten Ordnungs- respektive Standardisierungsverfahren zur Folge. Dadurch erst geraten diejenigen Praxis-, Kommunikations-, Medien- und Kunstformen in den Blick, die sich im Schatten geregelter Standardisierungsverfahren entfalten und gesellschaftliche Deutungsräume eigenen Rechts auf lokaler, regionaler und globaler Ebene hervorbringen.
Daraus erklärt sich das Interesse des Kollegs für die „andere Seite“ der Operationen des An- und Ausschließens. Wir fragen nach den Unterbrechungen, Reibungen und Konflikten, die mit den standardisierten Praktiken des An- und Ausschließens einhergehen, nach ihren Folgen für betroffene Akteur:innen, aber auch nach ihren Potenzialen für die Gestaltung künftiger neuer Lebenswelten. Aus einer experimentell orientierten Forschungsperspektive geht es daher darum, herkömmliche Methoden der Welterschließung und Weltbeschreibung gleichsam zu ‚ver-lernen‘, um dialogische Verfahren der Konstruktion und Kritik unserer digital neukonfigurierten Gegenwart neu zu denken und gegenhegemoniale Praktiken und Utopien zu entwickeln.
Solange sich unsere zunehmend globalisierte Welt durch sprachliche und kulturelle Vielfalt auszeichnet, bleibt die Übersetzung eine unentbehrliche und dennoch zweischneidige Tätigkeit. Sie stellt Anschlüsse her, indem sie in fremden Sprachen Verfasstes oder in anderen Kulturen Entstandenes eingemeindet, bewirkt aber im gleichen Zug Ausschlüsse, da sie die erste Umgebung des Übersetzten und seine enge Verflechtung mit derselben oft ausblendet oder sogar ausblenden muss. Diese Doppelseitigkeit der Übersetzung soll im Graduiertenkolleg aus literatur-, medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet werden. Die literarische Übersetzung wird weniger als philologische Herausforderung denn als kulturelle Praxis mit verschiedenen Nebeneffekten betrachtet. So wird zu fragen sein, inwiefern mit der Übertragung eines Textes Kontexte wie sprachspezifische Konnotationen zentraler Wörter oder Verbindungen der Verfasserin zu bestimmten ästhetischen Programmen und künstlerischen Bewegungen verloren gehen.
Im Hinblick auf ‚Weltliteratur‘ aus dem Globalen Süden drängt sich ferner die Frage auf, wie die Übersetzbarkeit eines Werkes beurteilt und damit über seine Zirkulation auf dem internationalen Buchmarkt entschieden wird. Übersetzung soll aber auch in einem weiteren Sinn als ‚Transkodierung‘ zeichenhafter Gebilde (Hall) oder als ‚Traduktion‘ in Handlungsketten mit nichtmenschlichen und menschlichen Akteuren (Latour) begriffen werden. Insofern umfasst der Arbeitsbereich etwa auch die Frage nach der angemessenen Übertragung von Begriffen aus anderen Wissenskulturen und Denktraditionen, ebenso die Untersuchung von Schwierigkeiten, die sich bei der gemeinsamen Ausstellung von Kunstwerken aus unterschiedlichen Weltregionen oder bei der kulturellen Übersetzung von Modellen städtischer Raumgestaltung ergeben.